„Massaker an den Märkten“, „Börsen in Panik“, „Billionen Euro vernichtet“. An spektakulären Schlagzeilen mangelt es nicht. Dabei wird einmal mehr von den Medien dramatisiert. Wer in der heutigen Informationsflut noch wahrgenommen werden will, greift allzu gerne zum Mittel der Übertreibung. Die Kursausschläge vom Freitag, dem 24. Juni, werden dazu gerne über einen Zeitraum von Stunden, höchstens drei oder vier Tagen dargestellt. Denn dann sehen die Kursbewegungen dramatisch aus. Doch man muss nur die Vorwoche noch zeigen – und alles ist halb so wild.
Ja, an den Kapital- und Devisenmärkten war ganz überwiegend mit einer knappen Mehrheit für einen EU-Verbleib Großbritanniens gerechnet worden. Und „gerechnet“ ist durchaus wörtlich zu nehmen. Eine von den vorherrschenden Erwartungen abweichende Information führt dann schon bei nur halbwegs effizienten Kapitalmärkten zu einer Anpassung des Kursniveaus – und das binnen kurzer Zeit. Nichts anderes ist am Freitag passiert. Schon nach den ersten Minuten konnte von Panik keine Rede mehr sein. Denn die Börsen drehten überwiegend in die Gegenrichtung. Und den ganzen Tag über wurden die Verluste schon kleiner. Wer nun nüchtern das Kursgeschehen analysiert, kann daraus Rückschlüsse auf die jeweils vorherrschenden Erwartungen ziehen.
Besonders „der Absturz des Britischen Pfunds“ sei dramatisch, verkündeten die Nachrichten. Damit kann aber kaum die Bewegung von 76 auf 82 britische Cent für einen Euro (also von 1,32 auf 1,22 Euro pro Pfund) gemeint sein, denn um diese Wegstrecke hatte sich das Pfund heimlich, still und leise allein im April und Mai gegen Euro erholt. Vor zwei Jahren stand das Pfund gegen Euro schon da, wo es jetzt nach dem sogenannten „Pfund-Crash“ steht. Und vor drei Jahren war das Pfund sogar deutlich weniger Euro wert als jetzt. Allein im Jahr 2008 war das Pfund von über 1,40 Euro fast auf die Parität von ein Pfund zu einem Euro gefallen. Gemessen daran ist der angebliche Zusammenbruch des Pfunds jetzt nur ein kleiner Ausschlag in der Mitte der Wechselkursspannbreite, die seit 2007 herrscht.
Richtig ist, das Euro und Pfund gemeinsam gegenüber dem US-Dollar an Wert verloren haben. Aber auch der Euro/US-Dollar-Wechselkurs liegt in der Bandbreite der vorausgegangenen Monate. Und sogar Pfund gegen US-Dollar sieht nicht halb so dramatisch aus wie mancherorts dargestellt: Gerade mal 3,1 Prozent ist das Pfund gegen Dollar in den vergangenen drei Monaten gefallen. Weil sich das Pfund von seiner 2008er Schwäche gegenüber der US-Währung nicht deutlich erholt hatte, reichte das jetzt für ein neues Tief seit 1985. Aber ähnliche Wechselkurse zwischen Pfund und Dollar hat es schon mehrfach gegeben. Erst in den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob das Britische Pfund wirklich dauerhaft neue Tiefs gegenüber dem Dollar erreicht hat.
Während sich andere Volkswirtschaften über eine Schwäche ihrer Währung gegen die wichtigste Welthandelswährung freuen, weil es Exporte erleichtert, dürfte Großbritannien netto kaum profitieren, denn Importe verteuern sich. Ohne starke Exportindustrie hat England wenig Grund, sich über eine Pfund-Schwäche zu freuen. Einzelne Nutznießer gibt es. In Pfund umgerechnet werden die Umsatzerlöse und damit Gewinnbeiträge von internationalen Konzernen, die ihren Sitz in Großbritannien haben, steigen. Die Aktienkurse der beiden großen britischen Pharmakonzerne GlaxoSmithkline und AstraZeneca stiegen denn auch am Freitag entgegen dem allgemeinen Trend um rund dreieinhalb Prozent.
Auch die gesamte Marktbewegung an der Londoner Börse passt so gar nicht in das Bild eines „Blutbads an den Börsen“: Im ersten Moment gab es zwar einen 9,5-prozentigen Kursrutsch. Dieser dürfte aber von recht undifferenzierten Verkäufen des Gesamtmarktes, insbesondere dem Future-Handel der Terminbörse ausgelöst worden sein. Im Handelsverlauf wurde dann schnell stärker differenziert: Bankaktien gehörten in London zu den größten Verlierern. Unternehmen, deren Geschäfte nicht vom finanziellen Zusammenhalt Europas abhängig sind, stiegen dann aber sogar. Bitish American Tobacco (BAT) beispielsweise um 2,6 Prozent.
Der Tagesverlust von 3,2 Prozent beim FTSE-100 liegt im Rahmen normaler Tagesschwankungen. Tatsächlich gehört der Londoner Aktienmarkt im laufenden Jahr eher zu den stabileren. Die Konjunktur entwickelte sich seit geraumer Zeit wieder besser als auf dem Kontinent und die börsennotierten Aktiengesellschaften werden sich auf die veränderten Rahmenbedingungen besser einstellen können als die englischen Politiker.
Viel stärker als die London Stock Exchange traf es andere Börsen. Insbesondere spanische, italienische und griechische Wertpapiere erlebten Kursverluste. Der spanische Ibex-35-Index der Börse Madrid verzeichnete einen Tagesverlust von 12,4 Prozent, der italienische MIB in Mailand von 12,5 und der griechische ASE General Index der Börse Athen einen Rückgang um 13,2 Prozent. Auch Anleihen der EU-Mittelmeerländer wurden abgestoßen.
Hier zeigen sich die wahren Auswirkungen des Brexit auf die Erwartungen: Der EU-Austritt Großbritanniens selbst ist wirtschaftlich kein großes Problem. Er wird wohl zu Wohlstandsverlusten bei den Engländern führen, ändert aber kaum den Wert der meisten englischen Unternehmen. Schlimmer ist die Signalwirkung, die vom Brexit für die Zukunft der EU ausgeht. Aus US-amerikanischer Sicht sieht es momentan so aus, als würde sich Europa auflösen, zerfallen, ins Zeitaltervon Kleinstaaten zurückfallen. Und das würde die Risiken von Wertpapieren aus Spanien, Italien und Griechenland wrhöhen. Die Liste der größten Aktienverluste wird deshalb am ersten Börsentag nach dem Brexit-Votum von europäische Banken angeführt. Neben Barclays (-17,7 Prozent) und Lloyds Banking Group (-21,0 Prozent) finden sich da vor allem Banken aus Italien (Intesa SanPaolo -22,9 Prozent) und Spanien (Banco Santander -19,9 Prozent).
Das Börsengeschehen spiegelt also die Wirkungen eines drohenden Brexits über die Insel hinaus, für Kontinentaleuropa und die entwickelten Volkswirtschaften insgesamt wider. Dr.Christoph Kind, Leiter der „Asset Allocation“ bei Frankfurt Trust, erklärte schon als mehrheitlich noch von einem EU-Verbleib ausgegangen wurde, dass eine erhebliche Verunsicherung die Kapitalmärkte noch für längere Zeit beschäftigen dürfte. Auch Stefan Kreuzkamp, Chief Investment Officer der Deutsche Asset Management, rechnete mit einer Erhöhung der Risikoaversion und somit einer Belastung der meisten europäischen Risikoanlagen. Das Brexit-Votum hat die ohnehin schon belastenden Sorgen über ein weiteres Auseinanderdriften der EU verschärft. Im schlimmsten Fall könnte mit Großbritannien ein Präzedenzfall entstehen, der den Prozess der europäischen Einigung umzukehren droht. „Ein Dominoeffekt wäre möglich“, erklärte auch Winfried Walter, Vorstand der Schneider, Walter & Kollegen Vermögensverwaltung. Entscheidend für die Kursentwicklung an den Börsen in den kommenden Wochen und Monaten wird also sein, ob Europa die Sorgen vor einem Zerfall entkräften oder bestätigen wird.
Brexit: Kleiner Rück- und Ausblick
Das ging schief! Der britische Premierminister David Cameron hat ein gefährliches Spiel gespielt und verloren. 2011 votierten 80 Abgeordnete seiner Tory-Partei im Parlament für die Abhaltung eines Referendums über die Mitgliedschaft in der EU. Insgesamt lehnte das Unterhaus mit 483 zu 111 Stimmen die Durchführung einer Volksabstimmung ab. Doch die Forderung der EU-Kritiker nach einem Referendum verstummte nicht, wohlwissend dass dann nicht politischer Sachverstand sondern einfache Stammtisch-Parolen siegen könnten. Im März 2014 hatte Cameron angekündigt, die Bürger bis spätestens 2017 über die EU-Mitgliedschaft abstimmen zu lassen. Offenbar hoffte er, die Drohung mit dem Brexit bis dahin bei den Nachverhandlungen zu Gunsten Großbritanniens nutzen zu können. Ein dann gewonnenes Referendum sollte die EU-Skeptiker endlich zum Schweigen bringen. Doch es sollte sich als Fehler erweisen, mit dem EU-Austritt zu drohen, den man selber nicht wollte.
Zurück bleibt ein zutiefst gespaltenes Land, das nicht den Glanz des früheren Empires zurück erhält sondern sogar zu verfallen droht, weil in Schottland, Nordirland und Wales die Europa-Befürworter in der Mehrheit sind. Natürlich auch in London, das seinen Zenit als Finanzmetropole jetzt überschritten hat. Ein Land, das die Hälfte seiner Exporte an die EU verkauft, wird sich an deren Regeln halten müssen. Den Freihandel mit der EU wollen ja noch nicht einmal die Austritts-Befürworter beenden. Norwegen und die Schweiz sind auch keine EU-Mitglieder. Auch sie müssen sich im Gegenzug für den Freihandel an die Regeln der EU halten. Dazu gehören Freizügigkeit im Personenund Dienstleistungsverkehr.
Ähnlich wie die Griechen, die in einer Volksbefragung ihre Schulden abwählen wollten, werden die Engländer merken, dass man sich die Welt nicht so schön wählen kann wie Demagogen das in ihrem Wahlkampf versprochen haben. Wie die Griechen werden die Engländer merken, dass man weiter mitspielen muss. Und wie die Griechen haben die Engländer dabei ihre eigene Verhandlungsposition nicht verbessert sondern stark geschwächt. Die „Scheidungsverhandlungen“ werden wohl mindestens zwei Jahre dauern. Und wie im Fall der Griechen wird die EU dabei wenig zu verschenken haben.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Dopf
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